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Erzähltes Recht

Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter, Campus Historische Studien 44

Erschienen am 08.10.2007, 1. Auflage 2007
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593384948
Sprache: Deutsch
Umfang: 359 S.
Format (T/L/B): 2.2 x 21.5 x 14 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Gab es im Mittelalter ein auf mündlicher Überlieferung gründendes »gutes altes Recht«, wie es etwa die Gebrüder Grimm zu entdecken meinten? Um diese Frage zu beantworten, untersucht Simon Teuscher den Ausbau zentraler Verwaltungen und die Ausbreitung neuer Schreibpraktiken auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Er zeigt einerseits, dass beide Entwicklungen einen Wandel lokaler Herrschaftskulturen und die Ausbildung neuer Normsysteme mit sich brachten. Andererseits räumt er mit alten Vorstellungen über orale Gesellschaften und ihre Rechtsgewohnheiten auf - denn das »erzählte Recht« wurde entscheidend durch Praktiken des Schriftgebrauchs geformt. Ausgezeichnet von H-Soz-u-Kult als "Das Historische Buch 2008" in der Kategorie "Mittelalterliche Geschichte"

Autorenportrait

Simon Teuscher ist Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich.

Leseprobe

Recht ist im modernen Selbstverständnis untrennbar mit Schrift verbunden. Ob Gesetze konsultiert, Formulare ausgefüllt oder Aktenstöße bewältigt werden - Schriftstücke sind aus dem gegenwärtigen Rechtsleben nicht wegzudenken. Dagegen muten spätmittelalterliche Rechte, die statt durch Schrift durch Erzählungen vermittelt wurden, exotisch an und haben die Forschung gerade deshalb seit langer Zeit fasziniert. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentliche Jacob Grimm neben seinen berühmten Märchen eine nicht weniger umfassende Sammlung spätmittelalterlicher Aufzeichnungen lokaler Rechte, sogenannter Weis­tümer. Wie im Fall der Märchen ging Grimm davon aus, dass die Bevölkerung diese vor ihrer Niederschrift seit unvordenklichen Zeiten mündlich tradiert hatte. In dieser Auffassung bestärkten ihn die poetischen Eingangspassagen der Weistümer. Diese schildern ritualisierte Versammlungen, bei denen der Herr eines Dorfs seinen Bauern gegenübertrat und sie aufforderte, Rechte aus der Erinnerung zu verkünden. Die jüngere Forschung hat manche der Annahmen Grimms widerlegt. Gleichzeitig erlangte das Interesse an ungeschriebenen Rechten und ihrer Verschriftlichung neue Relevanz und rückte in den Mittelpunkt so­zial­- und kulturwissenschaftlicher Debatten über die Implikationen der Ausbreitung neuer Medien. Dieses Buch befasst sich mit Prozessen der Verschriftlichung von Rechten, besonders von lokalen Herrschaftsrechten, im Gebiet des heutigen schweizerischen Mittellands zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert. Es untersucht, wie sich mittelalterliche Akteure über ungeschriebene Rechte verständigten und wie sich Herrschaftsordnungen im Zusammenhang mit der vermehrten schriftlichen Aufzeichnung von Normen veränderten. Zur Untersuchung solcher Fragen steht auch heute wenig mehr zur Verfügung als erstmalige Aufzeichnungen zuvor ungeschriebener Rechte. Weder Grimm noch seine Kritiker nutzten allerdings die Erkenntnismöglichkeiten, welche die Materialität der Dokumente eröffnet. Denn diese sind nicht nur Texte, welche die eine und die andere Schilderung von Praktiken enthalten. Sie sind auch Artefakte und waren als solche selbst immer schon Bestandteile von Praktiken ihrer Herstellung und ihres Gebrauchs, deren Geschichte noch weitgehend unerforscht ist. Als ältester in der Schrift schon fassbarer Ausdruck eines schriftlosen Rechtslebens gelten Aufzeichnungen von Rechtsgewohnheiten, deren Verbindlichkeit dadurch begründet wurde, dass sie schon vor ihrer Niederschrift in der Praxis befolgt oder mündlich tradiert worden waren. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen zwei Typen solcher Dokumente, die jeweils mit spezifischen Verfahren der Rechtsfeststellung in Verbindung standen. Dabei handelt es sich zum einen um die schon von Grimm gesammelten Weis­tümer und verwandte Dokumente. Sie halten ganze Serien dörflicher Rechtsregeln fest und weisen diese als Inhalte traditioneller mündlicher Rechtsverkündigungen oder Rechtsweisungen an lokalen Gerichtsversammlungen aus. Zum andern gelangen hier sogenannte Kundschaftsaufzeichnungen zur Untersuchung. Diese hielten Ergebnisse von Zeugenbefragungen fest, die nicht regelmäßig, sondern nach Bedarf durchgeführt wurden, um einzelne jeweils umstrittene Regeln zu klären. Die Untersuchung stellt das Rechts­leben ländlicher Gebiete in den Vordergrund, in denen diese Verfahren hauptsächlich zur Anwendung gelangten, bezieht aber auch einzelne Beispiele aus Städten ein. Weistümer und Kundschaftsaufzeichnungen erlauben es, die Verschriftlichung von Rechten auf unterschiedlichen Ebenen der Herrschaftsorganisation zu untersuchen. Als Texte gewähren diese Schriftstücke lebhafte Einblicke in lokale Praktiken, durch die Rechte im Alltag angerufen, umgesetzt oder auch missachtet wurden. Als Dokumente wurden Weistümer und Kundschaftsaufzeichnungen dagegen vorwiegend in formalisierten Verfahren der übergeordneten territorialen Gerichts- und Herrschaftsinstanzen gebraucht, was Sache juristisch geschulter Kanzleispezialisten war und meist mit Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Herren zusammenhing. Auf beiden Ebenen veränderten sich Kommunikationsformen im Lauf des Spätmittelalters grundlegend. Damit veränderte sich auch die Art und Weise, in der solche Rechte aus Traditionen hergeleitet und zum Gegenstand von Traditionsbildungen gemacht wurden.

Inhalt

Inhalt Dank11 1Einleitung13 1.2Problemstellung13 1.2Forschungsdiskussionen15 1.3Untersuchungsraum26 1.4Untersuchungsmaterial und Vorgehensweisen35 2Zwei Befragungsverfahren45 2.1Einleitung45 2.2Kundschaft: Ein Verfahren im Umbruch48 Von der Konsensbildung zur Wahrheitsfindung48 Innovationen der territorialherrlichen Kanzleien58 2.3Zwischen Weisung und Weistum73 Protagonisten und Aufgaben der Dinggerichte73 Spielarten der Rechtstradierung85 2.4Schluss98 3Umgang mit Herrschaftsrechten101 3.1Einleitung101 3.2Rechte ausüben106 Abwesende Herren106 Verzweigungen der Herrschaftsorganisation113 Um Rechte streiten123 3.3Gewohnheiten, Rechte oder Rechtsgewohnheiten?131 Unregelmäßige Gewohnheiten131 Ungewohnte Rechte142 3.4Schluss149 4Kundschaftsaufzeichnungen: Protokollier- undErzähltechniken152 4.1Einleitung152 4.2Objekteigenschaften und Handhabung der Aufzeichnungen156 Von der Urkunde zum Rodel156 Vom Rodel zum Buch164 4.3Typisierte Erzählungen175 Erinnerungen an Rechtsverfahren und Rechtsformeln175 Der zitierte Alltag184 Funktionswandel der ''grauen Vorzeit''189 4.4Schluss202 5Weistümer: Mikrokosmische Rechtsdarstellungen206 5.1Einleitung206 5.2Varianten der Verschriftlichung lokaler Rechte210 Prozesse der Gattungsdifferenzierung210 Alternativen und Anlässe der Aufzeichnung von Weistümern218 5.3Weistumsgenesen228 Zürcher Offnungen228 Waadtländer Plaicts239 5.4Schluss252 6Stile des Dokumentgebrauchs256 6.1Einleitung256 6.2Zeigen und Erzählen260 Mit Dokumenten argumentieren260 Funktionsweisen der Ostentation270 6.3Kanzleipraktiken278 Sammeln und Ordnen278 Auf dem Prüfstand des Gebrauchs284 Textus und Gewohnheitsrecht291 6.4Schluss302 7Zusammenfassung und Ausblick305 Bibliographie318 1Quellen318 1.1 Ungedruckte Quellen318 1.2 Gedruckte Quellen320 2Darstellungen323 Abkürzungen349 Register350

Schlagzeile

Campus Historische Studien Herausgegeben von Rebekka Habermas, Heinz-Gerhard Haupt, Frank Rexroth, Michael Wildt und Aloys Winterling